Chatten mit Bing – Die minderjährige Schwarzfahrerin mal anders

Neben ChatGPT 3.5 und 4 gibt es noch die neue Chat-Funktion von Bing. Bing ist die Suchmaschine von Microsoft. Der Vergleich der Systeme anhand meines Lieblingsbeispiels bringt erstaunliche Unterschiede zu Tage.

Übersicht

Warum immer der Fall der minderjährigen Schwarzfahrerin?

Ich habe in letzter Zeit immer wieder den Vorwurf gehört, dass ich immer wieder nur einen einzigen Fall nutze. Und der sei exotisch und nicht repräsentativ. Hier vorab also eine kurze Erklärung, warum für mich die Minderjährige, die beim Schwarzfahren erwischt wird, genau der richtige Fall ist:

Grob geschätzt werden vielleicht 200.000 Kinder jährlich im deutschen ÖPNV beim Schwarzfahren erwischt*. Ausgehend von 60,-€ pro Fall liegt das Volumen bei 12 Mio €. Damit ist das Thema durchaus relevant, für die betroffenen Familien allemal. Gerade bei Forderungen in dieser Höhe sind rechtliche Hilfestellungen auf Internetportale besonders effizient.

Das Thema ist aber auch juristisch spannend. Es setzt sich in der Anwaltschaft wohl die Meinung durch, dass das erhöhte Beförderungsentgelt für Minderjährige nicht zu zahlen ist, weil eben kein wirksamer Beförderungsvertrag zustande gekommen ist. Minderjährige können ohne Einwilligung oder Genehmigung der Eltern keinen wirksamen Vertrag abschließen, auch nicht, indem sie in den Bus oder Zug einsteigen.

Die Verkehrsbetriebe sehen das vielfach anders und treiben munter das Geld ein. Die Opfer fühlen sich meist schuldig und zahlen entsprechend zähneknirschend, aber ohne diese Pflicht in Frage zu stellen. Werden Gerichte angerufen, geben sie vielfach, aber auch nicht immer den Kindern recht.

Tatsächlich ist es, wie immer beim Recht, etwas komplizierter. Grundsätzlich stimmt es, dass ohne den Vertrag das erhöhte Beförderungsentgelt nicht geschuldet wird. Die hierfür notwendige Einwilligung oder Genehmigung kann aber aus manchen Verhaltensweisen der Eltern konstruiert werden. Das hätte zur Folge, dass die berühmten 60,-€ eben doch zu zahlen wären.

Berufen sich beispielsweise die Eltern darauf, dass sie zu wenig Geld haben oder die Fahrkarten ja so teuer sind, kann genau darin eine Einwilligung für’s Schwarzfahren konstruiert werden. Also Vorsicht, bei dem, was man sagt! Fahren Jugendliche zur Schule, zur Ausbildungsstelle oder zur Arbeitsstätte, gelten ebenfalls eigene Regeln (§§ 112, 113 BGB). Dagegen hat übrigens der Taschengeldparagraph (§ 110 BGB) mit alledem nichts zu tun!

Die Sache ist also nicht ganz einfach, nicht wirklich eindeutig, aber praktisch sehr relevant. Es kommt hinzu, dass die gefühlte Mehrheit nicht auf Seiten der tatsächlichen Rechtslage steht, sondern eine „Bestrafung“ für durchaus angemessen hält. Genau deshalb ist dieser Fall sehr interessant für den Test der Verlässlichkeit einer KI in Rechtsfragen, wie sie rechtsunkundige Anwender:innen haben.

Ein kleiner Vergleichstest

Es wurde auch immer wieder betont, dass ChatGPT, was ich bereits mehrfach getestet habe, ja nicht für deutsche juristische Fragestellungen trainiert sei. Dieser Einwand wäre in der Tat relevant, wollte man das System der KI hinter ChatGPT grundsätzlich in Frage stellen. Darum geht es hier aber gar nicht. Es geht schlicht um die Frage, ob man die Systeme im jetzigen Zustand um Rechtsrat fragen kann.

Neben ChatGPT ist auch das System BING von Microsoft mittlerweile mit einer KI-gestützten Chat-Funktion ausgestattet. Das ist der Anlass, einen Vergleich zwischen den drei Systemen mit exakt derselben Fragestellung zu starten.

Die Frage

Unsere Tochter ist 14 Jahre alt. Am 23.02.2023 wurde sie in der U-Bahn in München ohne Fahrkarte angetroffen. Sie hatte vergessen zu stempeln. Gestern, 24.3.2023 erhielt unsere Tochter ein Schreiben des MVV, sie solle 60,-€ erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen. Muss sie das tatsächlich machen, obwohl sie minderjährig ist und nur aus Versehen keinen Fahrschein hatte?

ChatGPT 3.5

Als minderjährige Person ist Ihre Tochter in der Regel für ihre eigenen Handlungen verantwortlich. Daher kann sie für das Nichtvorweisen eines gültigen Fahrscheins in der U-Bahn von München zur Zahlung eines erhöhten Beförderungsentgelts verpflichtet werden.

Das erhöhte Beförderungsentgelt wird fällig, wenn jemand ohne gültigen Fahrschein angetroffen wird. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Erwachsenen oder ein Kind handelt, das vergessen hat, einen Fahrschein zu kaufen oder zu stempeln.

Es ist jedoch möglich, dass Ihre Tochter aufgrund ihres jugendlichen Alters und des versehentlichen Fehlens eines gültigen Fahrscheins eine Reduzierung des Betrags beantragen kann. Sie sollten sich an den Kundenservice des MVV wenden und die Situation erklären, um zu sehen, ob eine solche Möglichkeit besteht.

Der Rat führt in die falsche Richtung. Im Normalfall muss das Geld eben nicht bezahlt werden. Nimmt man den Rat hier ernst, kommt man vielleicht auch zu einem Zahlungserlass. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Es besteht vielmehr das Risiko, dass die Eltern etwas falsches sagen, das später als Einwilligung ausgelegt wird.

ChatGPT 4

Ich bin kein Anwalt, aber ich kann Ihnen einige allgemeine Informationen geben. In Deutschland sind Fahrgäste verpflichtet, einen gültigen Fahrschein zu haben, wenn sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Wenn jemand ohne gültigen Fahrschein erwischt wird, muss er in der Regel ein erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen.

Auch wenn Ihre Tochter minderjährig ist und das Fahren ohne Fahrschein aus Versehen passiert ist, könnte sie trotzdem für das erhöhte Beförderungsentgelt verantwortlich sein. In vielen Fällen gelten die gleichen Regeln für minderjährige Fahrgäste wie für erwachsene Fahrgäste.

Es kann jedoch ratsam sein, den MVV zu kontaktieren und die Situation zu erklären. In einigen Fällen kann der MVV möglicherweise eine Kulanzregelung treffen oder das erhöhte Beförderungsentgelt reduzieren, insbesondere wenn es sich um das erste Mal handelt, dass Ihre Tochter ohne gültigen Fahrschein erwischt wurde.

Denken Sie daran, dass dies keine Rechtsberatung ist und es immer ratsam ist, sich an einen Anwalt oder eine andere qualifizierte Fachperson zu wenden, um Ihre spezifische Situation zu klären.

Das einzige, was ChatGPT 4 inhaltlich von ChatGPT 3.5 unterscheidet, ist der Hinweis darauf, dass das System weder Anwalt ist noch eine Rechtsberatung geben kann. Da hat das System recht. Die Beurteilung des Sachverhalts ist ebenso falsch, wie die der Vorgängerversion.

Microsoft bing

Diese Antwort kommt sofort auf den Punkt: „Nein, das muss sie nicht“. Und sie ist tendenziell richtig, wenn sie auch die Ausnahmen und Fallstricke nicht nennt. Dafür liefert Bing aber eine Reihe von Querverweisen, bei denen man nähere Informationen findet. Aus meiner Sicht ist das deutlich vertrauenswürdiger und hilfreicher als das Geplapper von ChatGPT.

Es passiert aber noch etwas erstaunliches. Bing schlägt nämlich vor, dass man noch fragen könnte, wie man auf das Schreiben des MVV antworten kann. Das habe ich getan:

Wie kann ich das Schreiben des MVV beantworten

Sie können das Schreiben des MVV beantworten, indem Sie darauf hinweisen, dass Ihre Tochter minderjährig ist und daher nicht zur Zahlung des erhöhten Beförderungsentgelts verpflichtet ist . Sie können auch eine Kopie der Geburtsurkunde Ihrer Tochter oder eine andere Bestätigung ihrer Minderjährigkeit beifügen.

Das ist noch keine echte Formulierung des Schreibens, aber ein deutlicher Hinweis, gegenüber dem MVV bestimmt und selbstbewusst aufzutreten. Das ist aus meiner Sicht der deutliche bessere Weg.

Kleines Fazit

In diesem Fall muss man feststellen, dass beide Versionen von ChatGPT zum Schwafeln neigen und noch dazu den falschen Weg weisen. Besonders problematisch ist, dass hier keine Verweisungen erfolgen, wo man sich weiter informieren kann. Damit gibt es auch keine kompetenten Quellen. Letztlich sind die beiden Systeme für diese konkrete Fragestellung unbrauchbar.

Bing geht offensichtlich einen anderen Weg. Es liefert scheinbar die Quintessenz einer Web-Recherche und beantwortet klar die gestellte Frage. Durch die Querverweise auf die weiteren Quellen kann man sich nicht nur genauer informieren, sondern hat dann auch Expertisen, auf die man sich berufen kann. Zudem versucht sich das System durch Nachfragen weiter nützlich zu machen.

Im Beispiel war also Bing die deutlich bessere Lösung. Das kann aufgrund des gänzlich anderen Ansatzes für ähnliche Recherchen genau so gelten.

Ob Bing allerdings die vielen anderen Aufgaben beherrscht, in denen ChatGPT erstaunliches leistet (programmieren, schreiben von Briefen, lösen von Hausaufgaben, entwerfen trivialer Reden etc.), habe ich bisher nicht getestet.


* In einer früheren Fassung des Beitrags hieß es: „Allein in Berlin wurden 2019 620.000 Schwarzfahrer:innen erwischt (s. Tagsspiegel). Geschätzt waren 5% davon Minderjährig, also 31.000. Das entspricht einem Volumen allein im Bereich der BVG von 1,86 Mio €. Ca. 30.000 Fälle und knapp 2 Mio Euro würde ich nicht als exotisch bezeichnen. Und deutschlandweit liegen die Zahlen sicherlich bei Zig-Millionen.“ Aufgrund eines Hinweises von Volker Hassel, dass in Berlin Schüler:innen mit einem Schülerticket kostenfrei fahren, habe ich die Passage geändert.

In Ermanglung valider Zahlen, habe ich die Zahlen aus Berlin (1 Mrd Fahrgäste) dennoch auf Deutschland (7 Mrd Fahrgäste, s. statista) hochgerechnet. Aufgrund der vielen Unwägbarkeiten können die genannte Zahlen nur sehr grobe Schätzwerte sein.